Belarus – auf Messers Schneide

von Aleksandr Morozov

In Belarus stehen die Dinge auf Messers Schneide. Das Regime will die Proteste niederschlagen. Doch die Gesellschaft hat sich nicht einschüchtern lassen. Aleksandr Morozov über die Wut des Diktators, den postsowjetischen Zement und die Chancen auf Dialog.

Die politische Krise in Belarus verlief bislang in vier Phasen. Die erste: die Ausschaltung von Viktar Babaryka und die Verhaftung von Sergej Cichanoŭskij.[1] Die Wahrnehmung: widerlich, aber: „typisch Lukašenka“. Die zweite Phase: große Sympathie für die „drei Schwestern“. Ihr Stab hat den Wahlkampf sehr klug geführt: versöhnlich, weiblich, modern.[2] Das Ergebnis: 80 Prozent für Lukašenka. Die öffentliche Reaktion: Empörung, „jetzt reicht es“. Die dritte Phase: brutale Gewalt. Reaktion: Erschütterung.

Nun sind wir mitten in der vierten Phase. Ihr Anfang: Lukašenka tritt in einer bestreikten Fabrik auf.[3] Die Diagnose: Er ist verletzt, wütend, lässt sich auf keine Kompromisse, keinen Dialog ein. Er fordert von der Gesellschaft totale Unterwerfung, leugnet nicht nur die Wahlfälschung, sondern auch den Polizeiterror, versteht nicht, dass die Dinge sich gewendet haben. Bis dahin war er von vielen eher als Witzfigur wahrgenommen worden: ein verstaubter Autokrat. Die Opposition hatte natürlich eine lange Liste der Verbrechen seiner Geheimpolizei, aber die meisten in Belarus sahen in ihm einen alten „roten Direktor“, der auf der Aktionärsversammlung seiner Kolchose ohne größere Schwierigkeiten wieder zum Vorsitzenden gewählt wird.

Doch zwischen dem 10. und dem 13. August hat der OMON auf Anordnung Lukašenkas versucht, die Proteste mit absoluter Brutalität im Keim zu ersticken. Vom Image des Kolchosvorsitzenden ist nichts geblieben. Die schockierende Gewalt hatte eine massive Auswirkung auf die gesamte Gesellschaft, auf allen Ebenen, in allen Schichten, im gesamten Land. Die alte Scheidelinie ‑ der gemeinsame Stab um Cichanoŭskaja vs. Lukašenka und sein Apparat ‑ löste sich in diesen drei Tagen auf.

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